- ISBN: 978-3-86863-076-3
- 246 Seiten
- 1. Auflage
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Band 10
- Format: 14,8 x 21 cm
- 2012
Theater und ekstatische Erfahrung
Die Rede vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ gehört zu jenem... mehr
Theater und ekstatische Erfahrung
Die Rede vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ gehört zu jenem kleinen Bestand an philosophischen Formeln, denen die Alltagserfahrung ohne weiteres zustimmen mag. Es leuchtet ein, daß uns im Moment des Erlebens und erst recht beim Handeln alles zu nah an der Haut ist. Wir können es nicht auf jene Distanz bringen, die für eine genauere Wahrnehmung nötig wäre.
Die Erfahrung großen Theaters ist von anderer Art; sie ist eine der reinen Intensität, und sie ist es noch in der Erinnerung an sie; ihr geht kein moralisches Urteil voraus, und sie leitet nicht dazu an. Die erlebten Augenblicke, von denen sie sich nährt, sind aber nicht dunkel, sondern taghell, wenn auch zunächst sprachresistent und begriffsfern. In diesen Augenblicken kann uns die eigene Sinnlichkeit unversehens gesteigert erscheinen, und sie ist es bis in den erlebten physisch-psychischen Zustand hinein: eine Absorption der gesamten Aufmerksamkeit, rezipierende Durchlässigkeit bis hin zu genußvoller Wehrlosigkeit, in der die unmittelbare helle Gegenwart des Wahrgenommenen uns besetzt hält, eine zeitenthobene Reglosigkeit bei höchster darunter liegender Erregung.
Unter den Augen der Sphinx großen Theaters ereilt uns die Ekstase der Zeitenthobenheit zu unsrem Glück immer wieder und je öfter, je lieber. Was bedeutet das für die Alternative „Intensive Moral oder amoralische Intensität“? Es bedeutet, daß sie nicht haltbar ist, denn der Austritt aus dem Kontinuum der Zeit im Medium hoher Intensität ist als Vorschein eines möglichen Anderen nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern in sich selbst eine Äußerungsform von Moral jenseits aller Vorschriften.
Das Ethos der theatralen Ekstase liegt in deren Fähigkeit, den Gestus des Einspruchs gegen die blinde Kontinuität vor die Sinne zu stellen und am Leben zu erhalten, im Arsenal unserer Möglichkeiten. Das gilt für die Ebene des Individuellen ebenso wie in gesellschaftlicher Perspektive. Der ekstatische Bruch mit dem Kontinuum des Immergleichen ist ein Einspruch gegen unsere eigene Zeitlichkeit und den Skandal des Todes, der uns allen bevorsteht, und als Einspruch ist er mehr als Trost. Und er ist ein Einspruch gegen die sich als irreversibel und alternativlos deklarierende Wiederkehr des gesellschaftlich sattsam Bekannten.
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