81 Sprüche zur Enthärtung unserer Welt – On the Softening of Our World: 81 Sayings

Eine Rezension von Alke Bauer, erschienen im Dreigroschenheft 2/2021

und 3/2021 https://drive.google.com/file/d/1bNDqhYkhGMjd-9B5sGhloTAVobTwC6Xm/view


"Du verstehst, das Harte unterliegt"
81 Sprüche zur Enthärtung der Welt

Inmitten einer Zeit der Verhärtung, der politischen und wirtschaftlichen Zuspitzung in vielen Ländern, sowie erheblicher Strapazen und Ängsten auf der ganzen Welt – ausgelöst durch ein Virus – hat Manfred Schewe einen starken Impuls: Zur "Enthärtung unserer Welt" schickt er eine E-Mail zunächst an Freund*innen und dann an weitere Menschen aus seinem privaten und beruflichen Umfeld. Seine Projektbeschreibung ist zündend, und so fliegt der Funke zwar nicht um die ganze Welt, aber immerhin in 14 Länder und animiert insgesamt 81 Autor*innen dazu, ihre "Sprüche zur Enthärtung der Welt " sowie jeweils dazu gehörige Kommentare beizutragen. Es ist wunderbar, diese zu lesen: Zunächst einmal folgte ich der Lust, durch das Buch zu blättern, zu staunen, inspiriert zu sein, betroffen, berührt, interessiert, neugierig.
Manfred Schewe ist es nämlich gelungen, einen ganz speziellen Bezugspunkt für die 81 Beiträge zu finden, von dem aus die Autor*innen ihre Texte entwerfen konnten.

An dieser Stelle kommt Bertolt Brecht ins Spiel: Einleitend beschreibt Manfred Schewe seine Verbindung zu dessen "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in der Emigration" (Bertolt Brecht 1938). Als Hochschullehrer habe er Sprach- und Theaterstudierende oft angeregt, sich auf  das Gedicht einzustimmen, um szenisch damit zu arbeiten.

Für dieses Buch nun stimmt er seine 81 Autor*innen (und uns als Leser*innen) mit einigen Auszügen aus diesem Gedicht ein: Ein chinesischer Philosoph ("Alter Meister"/Laotse) hinterlässt an der Landesgrenze, bevor er ins Exil geht, weil er es in seinem Land nicht mehr aushält, 81 Sprüche, "… die Ergebnisse großer intellektueller Anstrengungen" (S. 10) sind.
Schewe beschreibt weiter, dass es, dem Gedicht zufolge, dem beharrlichen Fragen des Zöllners zu verdanken sei, dass die Weisheit des Gelehrten weiterverbreitet wurde und so eine Ausdehnung von Bosheit im Lande verhindert werden konnte. (Vgl. S. 10)

Die zentrale Passage aus dem Gedicht von Brecht, auf das sich die Autor*innen des hier vorliegenden Buches allesamt direkt oder indirekt beziehen, lautet nun:

Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit dem mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.

Kaum traue ich mich, aus der Fülle der in diesem aktuellen Sammelband von Schewe versammelten poetischen, politischen, philosophischen Texte, selbstverfassten Gedichten und Zitaten bekannter Menschen einzelne herauszustellen. Denn auf beeindruckende Weise hat jeder Text für sich Bestand und ist doch verbunden mit dem großen Ganzen des Buches.

Also blättere ich noch einmal – nach dem Zufallsprinzip – und zitiere folgende Sätze: Spruch Nr. 27/81 von Natalia Dzhyma, Kiev, Urkraine: "Es ist die schlimmste Zeit, es ist die beste Zeit. Frei nach Eine Geschichte aus zwei Städten von Charles Dickens" (S. 86). Auf dieser Seite befindet sich das englische Original der Autorin, ihr Kommentar zum Spruch – in dunkelblauer Schrift – In schwarzer Schrift, mit Angabe des Übersetzers, der Text in deutscher Übersetzung. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich eines der Fotos, die das ganze Buch fließend und fest zusammenhalten. Es zeigt eine Variante von Wasser in Kombination mit Felsgestein.

Wie beschrieben, gestalten sich alle Texte (Spruch und Kommentierung) der Autor*innen auf Englisch und Deutsch, vielfach mit Anmerkungen und Verweisen. Am Ende des Sammelbandes finden sich sogar Noten und eine Übersicht von Fotos, die einige Autor*innen ihren Texten zugedacht haben: "Lebenskunst" (Bertolt Brecht) (S. 216) trifft Buchkunst!

Die Vielgestaltigkeit – durchgängige Zweisprachigkeit und Mehrfarbigkeit – des Buches wirkt keineswegs verwirrend. Sie verlockt in einzelnen Passagen, wie den weiten komplexen und sich weltoffen widersprüchlichen Blick zu. Die Kompendien-Form dieses Buches erinnert außerdem an eine alte chinesisch-japanische Weise, lebenspraktische Werke zu erstellen, nämlich An "Die Kunst, Listen zu erstellen" – so der Titel des Büchleins, das der Sinologe und Philosoph François Jullien 2004 herausgegeben hat. Im Klappentext heißt es dazu: "Den Aufbau der Liste zeigt sich als eine gegenständige Kunst, die auf ihre Weise Anteil am großen Tao hat. Sogar mathematische Listen sind mehrdeutig und verweisen auf kulturelle Praktiken. Die japanischen Listen […] erscheinen auf den ersten Blick völlig willkürlich und bunt zusammengewürfelt. Aber gerade dieser scheinbare Mangel an Logik ermöglicht es, die Kräfteverhältnisse darzustellen, die in einer Gesellschaft wirksam sind. Was allerdings den Spaß an der spielerischen Zusammenstellung widersprüchlicher Dinge nicht ausschließt."

Dede*r, die/der nun selbst gerne beteiligt sein möchte an diesem engagierten und höchst kreativen Projekt, kann sich mit einem eigenen Spruch und Kommentar an folgende E-Mail-Adresse wenden: project81+@gmail.com
Und schon im vorliegenden Buch selber sind die Seiten226/7 frei gelassen für eigene "Kreative Übung" zu einem "Spruch" und Kommentar".

Manfred Schewes Buch lädt ein zum Lesen, zum Verschenken und zum kreativen Partizipieren – auf dass dieses Welt eine bessere und schönere werden möge.

Alke Bauer
Stimmtherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Bielefeld
info@alke-bauer.de

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