Fremdsprachenunterricht als Ereignis

Eine Rezension von Müzeyyen Ege, Istanbul/Türkei in der Zeitschrift Zielsprache Deutsch 50, 3/2023, Stauffenburg Verlag GmbH.



Fremdsprachenunterricht als Ereignis.

Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis

Hensel, Alexandra (2020) (= Edition Scenario, Band 4).
Berlin, Milow, Strasburg: Schibri. 288 Seiten. ISBN 978-3-86863-213-2.

In der neueren Fremdsprachendidaktik werden vermehrt sprach-, literatur-, und kulturbezogene Inhalte mit ästhetisch-performativen Gestaltungselementen der Künste in Berührung gebracht. Richtungsweisend ist hierbei der Begriff der Performativität, der, angelehnt an die sog. Performativen Künste (Tanz, Theater, Oper etc.), den dramapädagogischen Ansatz im Bildungszusammenhang um vielfältige Dimensionen des sprachlichen und körperlichen Handelns erweitern will. Der sogenannte performative turn in den Wissenschaften (vgl. Bachmann-Medick 2010) spiegelt sich im DaF/DaZ-Bereich der Fremdsprachendidaktik in der ansteigenden Zahl an innovativen Konzepten und Forschungsarbeiten wider (vgl. Even/Schewe 2016, Fleiner 2016, Sambanis/Walter 2019, Walter 2020, Bernstein 2021 u.a.).
Ein „erfahrungsbasiert-körperbezogenes Lernen”, das über eine „künstlerische Auseinandersetzung mit Text und Sprache” erfolgen soll, ist auch die Zielsetzung der Deutschkurse, die Alexandra Hensel in ihrer Doktorarbeit untersucht (2020: 15). Hensels Dissertation Fremdsprachenunterricht als Ereignis. Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis wurde im Schibri-Verlag (Edition Scenario) ver.ffentlicht und positioniert sich als Beitrag zur Unterrichtsforschung, indem die Autorin mit einem innovativen Kurskonzept eine „performativ-ästhetische Unterrichtsform” begründen möchte (17). Hensel untersucht in ihrer Forschungsarbeit den Verlauf und die Wirkung eines von ihr gestalteten Sprachlehr- und -lernmodells, das sie in dem Zeitraum von 2008-2016 ander Georg-August-Universität Göttingen entwickelte und durchführte. Unter dem Titel Deutsch lernen durch Theaterspiel war der Fremdsprachenkurs an internationale Studierende und Mitarbeiter*innen auf B2/C1-Niveau adressiert. Angelegt als qualitativ-explorative Fallstudie beschäftigt sich Hensel in ihrer Untersuchung mit der zentralen Forschungsfrage, inwieweit ihr performativ-ästhetisches Unterrichtskonzept im DaF/DaZ-Bereich Sprachlernprozesse und die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmenden fördern kann (ebd.).
Die Dissertation besteht aus neun Kapiteln mit einem abschließenden Glossar, das für die Arbeit relevante Fachtermini einer performativen Didaktik umfasst (260-263). Im einleitenden Teil legt die Autorin ihre Forschungsmotivation dar, die von eigenen prägenden Lern- und Lehrerfahrungen ausgehend das positive Erleben künstlerischer Prozesse im Unterricht in ein DaF/DaZ-Sprachkursmodell münden lässt. Im theoretischen Teil der Arbeit findet neben einer begrifflichen Aufarbeitung eine Verortung und Kontextualisierung in einer interdisziplinären Forschungslandschaft und damit eine Anbindung an die aktuelle Fachdiskussion statt. Dafür werden die Erkenntnisse von Bezugsdisziplinen wie die „Neurowissenschaften, Fremdsprachendidaktik, Pädagogik, Theaterwissenschaften sowie Theaterpädagogik“ (18) in übersichtlicher und nachvollziehbarer Weise in Verbindung zueinander gesetzt. Besonders interessant erscheinen hier die Hinweise auf die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften, die die Bedeutung des Spielerischen und des sog. Flow-Gefühls im Lernprozess hervorheben. Deren lernbegünstigende Wirkung würde Hensel zufolge die Motivation fördern, die Aufmerksamkeit steigern und über die affektiven Bereiche auch die kognitiven Fähigkeiten wie analytisches Denken und Gedächtnisleistungen positiv beeinflussen (21 f., siehe dazu Sambanis 2013: 135, Hüther 2014: 92). Diese in der Pädagogik bereits seit längerem bekannten positiven Effekte werden durch Nachweise aus den Naturwissenschaften transdisziplinär verzahnt. In empirischen Studien, so Hensel, gehe man etwa von sogenannten Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten aus, die sich gerade auch bei der „Hirnregion, die für die Verarbeitung sprachlicher Arbeit zuständig ist“, zeigen und einen „Zuwachs an sozialen Fähigkeiten“ beobachten lassen (15, siehe Rittelmeyer 2012: 101). Als weitere lernfördernde Komponente betont Hensel in diesem Abschnitt das Initiieren „interaktiver Prozesse“, wodurch vor allem die Rolle der Lehrkraft in den Vordergrund gestellt wird. Eine optimale Lernumgebung sei nämlich wesentlich von der Grundhaltung der Lehrkraft und ihrer Fähigkeit bestimmt, ein Vertrauensverhältnis zu den Lernenden aufzubauen. Im Zusammenspiel der Lernbereitschaft durch Motivation und weitere positive Emotionen, mit der Stimulanz kognitiver Systeme (bspw. durch Neues, überraschendes, Vielfalt und Wiederholungen) (24 ff.) könne Hensel zufolge eine effiziente Unterrichtsgestaltung verwirklicht werden. Das theoretische Kapitel liefert dem Leser mit den Bezügen zur Sprachdidaktik, einer Diskussion über die Rolle des Theaterspiels im Unterricht und den Konsequenzen für die Lehramtsausbildung einen guten interdisziplinär fachlichen Überblick. Im dritten Kapitel legt die Autorin das Forschungsdesign ihrer Doktorarbeit dar. Sie folgt einem empirischen Studienaufbau gemäß einer „Triangulation“ zur Datenerhebung und -analyse: Es werden dabei folgende drei Analyseinstrumente herangezogen: die Eigenperspektive (P1), die die Beobachtungen und Dokumentationen der Übungsleiterin über den Zeitraum von 2008-2016 erfasst, eine Videografie (P2), die mit Hilfe der Kamera eine distanzierte Perspektive des Handlungsverlaufs dokumentiert und aus den Aufnahmen einer Abschlussaufführung und einiger Proben besteht. Und schließlich die Teilnehmerperspektive (P3), die die Evaluation der Fragebögen und Reflexionsschreiben über eine qualitative Inhaltsanalyse ermittelt. Diese drei Perspektiven werden in den Kapiteln 4 bis 6 detailliert ausgeführt und ausgewertet.
In verschiedenen Abschnitten der Arbeit werden folgende Kriterien für die Analyse im Rahmen der Unterrichtsforschung wiederholt aufgegriffen und ihnen eine besondere Relevanz zugewiesen: Sprechbereitschaft (Mut zur sprachlichen Beteiligung und Motivation), Sprachbewusstheit (language awareness im Sinne von Wahrnehmungs- und Formsensibilisierung) sowie die Sprechkompetenz (freies, flie.endes und strukturiertes Sprechen). Diese Komponenten des Sprachlernprozesses stellt die Autorin in enge Verbindung mit der Persönlichkeitsentwicklung von Lernenden. Positiv hervorzuheben ist, dass Hensel in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung eines interkulturellen Bewusstseins erwähnt, als dessen gedankliche Grundlage sie das dynamische, „polyphone[s]“ Konzept der Transkulturalit.t setzt. Somit findet in der Arbeit eine Betonung der „Vielschichtigkeit und Dynamik kultureller Identitäten“ statt und eine Distanzierung von einem vergleichenden Blick (48). An dieser Stelle könnte man fragen, ob und wie diese Dimension in die Unterrichtsgestaltung und Reflexionen der Lernenden eingebracht worden ist; allerdings hätte eine solche Ausarbeitung sicher den Rahmen der Arbeit sprengen können. Der Autorin kann zugestimmt werden, wenn sie an anderer Stelle ausführt: „Interkulturelles Agieren ist schon per se durch die Heterogenität der TeilnehmerInnen gegeben“ (125).
Folgt man dem Aufbau des untersuchten Sprachkurses, besteht der Kursverlauf aus drei Phasen: aus der anfänglichen Formsuche (Phase I), der sogenannten Formgebung/Inszenierung, also dem künstlerischen Aufarbeitungsprozess (Phase II) und abschließend der Form selbst, also der Werkschau als Endprodukt (Phase III). Diese Phasen werden im Rahmen der herangezogenen Analysekriterien (Perspektive I-III) untersucht und interpretiert (Kapitel 4-6). Im abschließenden Teil der Arbeit werden neben der Ergebnissicherung der Untersuchung auch die empirische Vorgehensweise kritisch beleuchtet (Kapitel 7-8) sowie die gewonnenen Erkenntnisse in einem „Modell für eine performativ-.sthetische Unterrichtsgestaltung“ (19) zusammengeführt (Kapitel 9). Neben den „Überlegungen zum performativ-ästhetischen Unterrichtsvorgehen“ (235 ff.) bietet die Studie im Rahmen des Unterrichtsmodells eine umfangreiche Sammlung an Theaterübungen, die für die verschiedenen Phasen eines Unterrichtskonzepts verwendet werden können. Diese können insbesondere für die Unterrichtspraxis von Lehrkräften hilfreich sein, die derartige Arbeitsweisen ausprobieren möchten. Hensel spricht in ihrer Forschungsarbeit das Problem der Leistungsmessung an, dem sich empirische Arbeiten innerhalb der Fremdsprachendidaktik gestellt sehen. Hier wird im speziellen die Frage aufgegriffen, inwiefern performative Kurse in ihrem Ablauf und ihrer Kompetenzbewertung ein nachvollziehbar standardisiertes Prüfungsverfahren zulassen. Da mit dem dramapädagogischen Ansatz verstärkt subjektive Lernprozesse und Handlungen in den Unterrichtsablauf und damit in die Evaluation miteinfließen (wie etwa Selbsteinschätzung, Reflexion etc.) ist eine Bewertung über rein kognitive Leistungen hinaus erforderlich, da auch persönliche, soziale und sprach(ästhetische) Fähigkeiten wie „ästhetische Handlungskompetenz“ (163, siehe Fleiner 2016: 280) in dem Gesamtbild der Bewertung mitberücksichtigt werden. Die Autorin liefert an dieser Stelle einen konkreten Vorschlag in Form eines Bewertungsbogens aus ihrer Unterrichtspraxis (164). Mit ihrer Doktorarbeit bezieht sich die Autorin deutlich auf die Problematiken einer performativ ausgerichteten Didaktik, wirft weiterführende Forschungsfragen auf und stellt mit ihrem Unterrichtsmodell sowie zahlreichen Übungen anregende Handreichungen für Lehrkräfte zur Verfügung und somit einen wertvollen Beitrag sowohl für eine dramapädagogisch orientierte Forschungskultur als auch für die Lehrpraxis.

Literatur
Bachmann-Medick, Doris (2010), Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Bernstein, Nils (2021), Bericht: Zeit für die Künste, eine führende Rolle zu übernehmen. Zur Podiumsdiskussion „Performatives Lehren und Lernen“ im Rahmen der „Sommerlichen FaDaF-Literaturtage“. In: Scenario 15/2, 115-124.
Even, Susanne; Schewe, Manfred (Hrsg.) (2016), Performatives Lehren, Lernen, Forschen. Performative Teaching, Learning, Research. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag (Edition Scenario, Band 3).
Fleiner, Micha (2016), Performancekünste im Hochschulstudium. Transversale Sprach-, Literatur- und Kulturerfahrungen in der fremdsprachlichen Lehrerbildung. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag (Edition Scenario, Band 2).
Hüther, Gerald (2014), Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. Frankfurt am Main: Fischer.
Rittelmeyer, Christian (2012), Warum und wozu Ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen: Athena.
Sambanis, Michaela (2013), Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr Francke Attempto.
Sambanis, Michaela; Walter, Maik (2019), In Motion – Theaterimpulse zum Sprachenlernen. Von neuesten Befunden der Neurowissenschaft zu konkreten Unterrichtsimpulsen. Berlin: Cornelsen.
Walter, Maik (2020), „Von der Einzigartigkeit des Unterrichtens”. In: Fremdsprache Deutsch. Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts, Nr. 62, Themenheft Performative Didaktik, 3-8.

Anschrift der Rezensentin:
Doc. Dr. Müzeyyen Ege
Marmara Universitesi Atatürk Eğitim Fakültesi
Alman Dili Eğitimi Ana Bilim Dalı
AEF Ek Bina, Oda: D-613
G.ztepe Kampüsü
TR-34722 Kadık.y
Istanbul, Türkei
E-Mail: mege@marmara.edu.tr

Assoc. Prof. Dr. Müzeyyen Ege
Department of German Language and Education
Marmara University-Istanbul

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