Eine Rezension von Gerd Koch, erschienen in der Zeitschrift für Theaterpädagogik, Heft 79, S. 53
Nachspielzeit.
Aufsätze zu theaterästhetischen und theaterpädagogischen Fragen und zu Fragen der Sprechkunst 2009–2019
Der Begriff „Nachspielzeit“ ist genuin kein Terminus aus dem Felde des Theatralen, sondern aus der Welt des Fußballs – und kann dort als zusätzlich gegebene Zeit durchaus Spektakel-Erlebnisse (spectaculum = Schauspiel) generieren im Stadion. In Falle des Buches von Ritter scheint es mir angemessen, das Wort in seine drei Teile zu zerlegen: ‚nach‘, ‚Spiel‘, ‚Zeit‘. Denn der Autor reflektiert, denkt ‚nach‘ über eine lange ‚Zeit‘ seiner Aktivitäten im Felde von ‚Spiel‘ und befragt sie und sich theaterästhetisch, theaterpädagogisch und sprechkünstlerisch, wie der Untertitel seines „Nachspielzeit“-Buches richtig akzentuiert. Und damit befindet er sich im ‚Spielfeld‘ von Prozessen und Produkten, die er nun selber angeregt und nach-bedacht hat, so dass sein Buch auch gelesen werden kann als eine Werk- und Wirkbiografie eines langjährig tätigen Lehrers an Hochschulen und künstlerischen Akteurs (Sprecher, Sänger, Lyriker, Instrumentalist). Die manchmal bedauerte ‚zeit’liche Flüchtigkeit theatral-künstlerischer, performativer Erlebnisse / Produkte / Prozesse / Experimente wird im ‚Nach‘-Be-Denken des Autors Ritter mit seinen Aufsätzen qualitativ aufgehoben; denn das ‚Nach-‘ hatte ja eine ‚Vor‘-Geschichte und kann nun zu einem ‚Voraus‘, zu Zukünftig-Neuem werden. In diese Perspektive führt das Buch von Ritter.
Belege finden sich (für mich) namentlich in dem Kapitel „Verfremdungen und Verfransungen“: Darin geht es um „Schwesterliche Zuneigung – schwesterliches Fremdeln“ – nämlich von „Theater und Musik“, „Emotionalität beim Sprechen und Singen“. Ritter bringt seine Qualifikationen unter anderem und zu Recht in die Selbstverständigungs-Lehr-Lern-Stücke von Bertolt Brecht ein, die in der Tat immer
schon von Brecht mit Musik verbunden waren. Vielleicht kann hier ein Begriff aus dem 18. Jahrhundert von Johannes Mattheson Pate stehen, der das Wort von der „Klang-Rede“ 1739 einführte. Und auch die in mimischen Künsten gebräuchliche Formulierung vom „sozialen Klang der Geste“ wäre naheliegend (siehe anregend weiterführend die Ausführungen von Ritter zu „Gestus und Habitus“). Das Musikalische ist in der Lage, Sprechen und Sprache zu dynamisieren, zu rhythmisieren. Siehe dazu auch Ritters Ausführungen zu „Kleist: Über das Marionettentheater – Der erzählte Diskurs“ und „Bertolt Brecht: Die Bestie – Erzählen als Diskurs“.
Bevor der Autor seine Aufsatz-Sammlung mit „Statt einer Biographie: Vom Vergnügen an Arbeit und Beruf“ beendet, liefert er einige „Theatergedichte“, die wir im Zusammenhang seines Buch- und Arbeits-Konzeptes als seine fachliche Aussagen, verfasst aus „poetischer Vernunft“ (Maria Zambrano), verstehen dürfen. Hier ein Beispiel mit dem Titel „zuschaukunst I“: sie spielen menschen / und sehen einander zu, wie sie menschen / spielen – oder sehn die menschen / die sie spielen, menschen zu / mit denen sie leben? / […] / was geht ihnen da ins herz / den spielenden – das leben? / oder das andre: die kunst? / und was uns, die wir zusehn / was sie da treiben? /
Gerd Koch