Schönheit und Schrecken – Vom Sinn der Corrida

Schönheit und Schrecken – Vom Sinn der Corrida
Eine Rezension zum Buch von Martin Jürgens (2020)

Vorab zweierlei: 1. Die sinntragenden Begriffe im Buchtitel signalisieren deutlich ein Widerspruchsfeld, was auch künstlerisch-theatraler, performativer Arbeit nicht fremd ist: Schrecken und Schönheit. 2. Ich freue mich, dass der Autor nicht von „Stierkampf“ spricht, sondern den Begriff „Corrida“ verwendet, der nicht mit „Kampf“ zu assoziieren ist, sondern mit bewegender Dynamik, mit Abläufen (siehe Kurier, siehe Korridor) und so andere Phantasien- und Erkenntnisweisen anregt, und das Martialische, was mit „Kampf“ allzu leicht verbunden werden kann, nicht dominant setzt. Nebenbei: Ich besuchte aus Neugier in der spanischen Stadt Chinchón vor Jahren eine Corrida (meine erste und einzige). Die jungen Stiere erreichten von außerhalb über die ‚normalen‘, aber gesicherten Gassen des Ortes den innerstädtischen Marktplatz, der zum Fest des Apostel Jakobus zur Arena gestaltet war (z. B. boten auch die Privat-Balkons der anliegenden Häuser rund um den Markplatz  Sitzplätze für BesucherInnen). Ich gestehe, die Corrida nicht bis zum Ende durchgestanden zu haben, und erinnere mich, dass ich auf meinem Weggang einen Blick in einen großen, hell gekachelten, sauberen Raum geworfen habe, der mich an Räume im kleinstädtischen Schlachthof meiner Kindheit erinnerten (ja, ein bei einer Corrida getöteter Stier wird hier sein weiteres Ende erfahren).

Das Buch von Martin Jürgens lässt mich klüger werden in Bezug auf den „Sinn der Corrida“, auf deren „Schönheit und Schrecken“, als durch m/eine Stipvisite. Für den Einstieg meiner Lektüre wählte ich das 5. Kapitel: „Theater, Ritual, Tieropfer?“ (S. 75 – 102), und schon vorher hatte ich bemerkt, dass der Verfasser immer wieder Bezüge zum Theatralen u. ä. in seiner Argumentation heranzieht: Schon sehr früh gibt er in seinen 169 Fußnoten einen Hinweis auf Heiner Müller (Fußnote 16), und sein Literaturverzeichnis weist einschlägige Fachliteratur zu Theater, Ästhetik, Performativität und Künste auf. Welche Akzente nun setzt der Autor im 5. Kapitel, was günstig in der Mitte seines Buches platziert ist, so dass man von dort – gewissermaßen flankierend – erweiternde Erkenntnisse gewinnen kann? Ich zitiere: „Natürlich gibt es keinen Text, sei er fixiert oder improvisiert, der als Mittel der Interaktion oder gar der Verständigung zwischen Mensch und Tier dienen könnte“ (S. 75) – „Kostüme gibt es für die Torreros: ungemein teure, aufwändig hergestellt, aus Brokatstoff und mit Perlen und Pailletten besetzt“. Schuhe „werden Matadoren manchmal lästig, so daß sie sie abstreifen und in rosa Strümpfen auf dem Sand stehen.“ Die Betrachtung der banderillas im Nacken des Stieres führen den Autor zur „Ophelia-Figur in Heiner Müllers ‚Hamletmaschine‘ – ‚gekleidet in sein Blut‘. Spuren dieses Blutes werden nach und nach auf dem ‚Lichtkleid‘ des Matadors sichtbar“ (S. 76) – „Unvergleichbares zeigt sich … im Hinblick auf den für die Tragödie bedeutsamen Begriff Konflikt: Das Ende … steht zwar … von vornherein fest und ist allen bekannt … Aber es gibt keine Figuren, Tendenzen und Konstellationen, die dem Ende entgegenwirken ... Hinzukommt, dass es keine Feinderklärungen zwischen Mensch und Tier gibt“ (S. 77) – „Die Inszenierung des Todes zeigt also immer erneut dasselbe Drama mit denselben ‚Protagonisten‘: Mensch und Tier. Aber es ist kein Probehandeln auf den Brettern, die die Welt nur bedeuten; die Arena ist kein Ort der Fiktion. Damit ist die scharfe Differenz von Theater und Corrida benannt. Das Blut ist echt …“ (S. 78) – „Die Erfahrungen, die im Rund der Arena mit dem inszenierten Tod gemacht werden, gehören einer Kultur der existentiellen Verschwendung und Selbstverständigung an; als Bezugsgrößen kommen nicht die Spielformen des Theaters, sondern eher die christliche Liturgie und das Ritual in Frage“ (S.78) Die weiteren Ausführungen des Autors im 5. Kapitel akzentuieren Folgendes: „Das Opfer, immer noch nah“ (S. 80 – 82) – „Flucht in den Schrecken“ (S. 82 – 87) – „Der toro als Opfer par excellence“ (S. 87 – 94) – „Das Glück des ekstatischen Augenblicks“ (S. 95 ff.): „die Corrida, so oft man hingehen mag, steht dem Tod so ohnmächtig gegenüber wie jede andere künstlerische Praxis. Sie ist und bleibt jedoch eine alte, durch mehrere Gesellschaftsformationen hindurch entstandene und immer noch kollektiv verstandene Sprache des Todes, die sich und uns keine Ausflucht gestattet …“ (S. 101).

Mein Vorschlag: Nun weiterlesen in den Kapiteln davor und danach. Das hier nur knapp Wiedergegebene erfährt dann seine unterschiedlichen Füllungen. Das Buch ist sehr anschaulich gestaltet: Es werden grau hinterlegt Passagen anderer Personen eingefügt und es ist ausgestattet mit einer wunderbar komponierten Fülle von Bildern, die nun ihrerseits erzählen, akzentuieren, irritieren, dokumentieren, konterkarieren, so dass auch eine sinnliche Sinnstiftung der Corrida entsteht in ihrer Schönheit und in ihrem Schrecken. Für mich ist das Buch ein Beitrag zur Kulturgeschichte.

Prof. Dr. Gerd Koch
(Eine leicht gekürzte Fassung der Besprechung erschien in der Zeitschrift für Theaterpädagogik, Heft 78, 2021, S. 48 f.)

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Ich habe die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis genommen.

Passende Artikel